Ein Dozent von meinem EMBA hat mir letztens einen guten Artikel von Scott Kirsner aus dem Harvard Business Review zugespielt. Ergänzend zu meinem Blogpost über Businessplan für Lean-Startup werden in ihm Nutzen und Herausforderungen der Lean-Startup Methodologie in Grossunternehmen unter die Lupe genommen. Der Artikel „The Barriers Big Companies Face When They Try to Act Like Lean Startups“ basiert auf einer Umfrage mit 170 „Innovation Leader“ von grossen Unternehmen aus verschiedenen Industrien. 82% der Befragten geben an, dass sie bereits gewisse Elemente der Lean-Startup Methodologie anwenden… ihr wisst schon: Prototypen an realen Kunden testen, Feedbackschlaufen durchlaufen, welche Daten für Verbesserungen generieren, Product-Market-Fit mit minimalem Ressourceneinsatz finden etc.
Die Mehrheit der Befragten gibt an, dass der Nutzen der Lean-Startup Methode in Grossunternehmen im Wesentlichen aus folgenden Aspekten besteht (% der Antworten):
- Entscheidungen werden aufgrund belegbarer Daten anstatt auf den befangenen Meinungen einiger wenigen Executives getroffen (67%).
- Entwicklungen können schneller vorangetrieben werden, als mit traditionellen Methoden… Man denke nur an endlose Meetings, die am Schluss zu einem Plan führen, der nie umgesetzt wird (61%).
- Das Feedback von Kunden und anderen Stakeholdern ist qualitativ entschieden besser, als keine Information von Kunden – logo 🙂 (55%).
- Der Kontakt und das Beobachten echter Kunden (also ausserhalb des geschützten Geschäftsrahmens) werden gefördert (54%).
OK, in meinen Augen nichts Neues – denn diese Perspektiven soll die Lean-Startup Methodik ja genau begünstigen, egal wie gross das Unternehmen ist. All diese Fakten beschreibt Eric Ries auch in seinem durchaus lesenswerten Buch „Lean Startup“, welches die Thematik hauptsächlich aus dem Gesichtspunkt eines Software-Startups beleuchtet. Die Frage stellt sich, ob die Lean-Startup Methodik überhaupt in Grossunternehmen Platz hat. Widersprechen die Wörter „Lean“ und „Startup“ nicht grundsätzlich dem Wesen von Grossunternehmen? Die Antwort ist „jein“, da es auf verschiedene Faktoren ankommt, wie z.B. die Firmenkultur, den Risiko-Appetit, die Organisationsstruktur und natürlich auf das Produkt oder die Dienstleistung.
In dem Sinne interessant sind die von Kirsner zusammengetragenen Herausforderungen, die ich wiedererkenne, wenn ich an meine Zeit im Grossunternehmen zurückdenke. Diese sind unter anderem (% der Antworten):
- Das Risiko ist zu gross, um unfertige Produkte zum Testen bereits auf den Markt zu bringen (50%).
- Die Industrie eignet sich nicht, um ein minimal funktionsfähiges Produkt zu erstellen. Denn nicht jede Firma ist eine Software-Startup, die Releases mit geringem Aufwand an gewissen Kundensegmenten testen kann. (36%)
- Die Ressourcen sind nicht vorhanden (passende Leute oder finanzielle Mittel) (33%)
- Das gegenwärtige Geschäftsmodell ist zu wenig Flexibel, um „Lean“ umzusetzen. (32%)
Was fangen wir nun mit diesen Informationen an?
Diese Aspekte können zum einen als Argumentationsgrundlage bei strategischen Entscheidungen in Grossunternehmen verwendet werden. Zum anderen sind sie eine gute Orientierungshilfe für jene Unternehmen, die sich zum Ziel setzen alte Traditionen aufzugeben und mit ihrem Innovationsmanagement „lean“ zu gehen. Sie sollten beispielsweise überprüfen, ob sie das Risiko eingehen wollen und können, um unfertige Produkte an realen Kunden zu testen. Vielleicht eher ungünstig für ein Medikament Hersteller – aber eine Versicherung könnte durchaus neue Produkte an einem kleinen Kundenkreis testen. Wie wärs mit einer tageweisen Wintersport-Versicherung für den nächsten Skitag? Das zeigt, dass sich nicht jede Industrie eignet, um die Grundsätze eines Lean-Startups penibel umzusetzen. Dass in Grossunternehmen die erforderlichen Ressourcen nicht vorhanden sind wage ich jedoch zu bezweifeln. Wohl eher werden sie vom Top-Management aufgrund irgendwelcher Ängste (z.B. sich verändern zu müssen, ihre Autorität wird angezweifelt) nicht gesprochen. Und schlussendlich sollte das Geschäftsmodell die Flexibilität und Agilität eines Lean-Startups zulassen.
Go lean or go home?
In Grossfirmen tummeln sich wohl nicht unbedingt die passenden Entrepreneure und Innovatoren, um die Lean-Startup Methodologie umzusetzen. Diese Leute haben das Unternehmen wohl bereits verlassen, weil sie ihr Potential nicht entfalten konnten. Ich spreche aus Erfahrung – in Grossunternehmen findet man ausgezeichnete (aber nicht unbedingt innovationshungrige) Projektmanager, gut funktionierende Silos, motivierte junge Talente die nicht ernst genommen werden, erfahrene Mitarbeiter die gelernt haben sich vor Arbeit zu verstecken und änderungs-resistente Führungspersönlichkeiten. Aber nicht nur – und mit genügend Wille (offene Führungskräfte mit neuen Ideen) oder externem Druck (drohende Disruptive Innovationen von Konkurrenten, rückläufige Umsätze) wird so einiges möglich.
Die Kunst ist es, die zu einem grossen Unternehmen passenden Rosinen aus der Lean-Startup Methodologie herauszupicken, die sich innerhalb der schwer veränderbaren Strukturen umsetzen lassen und den grossen Egos nicht zu fest auf die Füsse treten. Spontan kommen mir folgende Ansätze in den Sinn:
- Den Innovationsprozess so gestalten, dass er ein leanes Innovieren fördert inkl. Training der Leute im der Lean Methodologie.
- Einen Innovationsmanager engagieren, der etwas von der Lean-Startup Methodik versteht und das Vertrauen der Geschäftsleitung und der Abteilungsleiter hat.
- Designierte, unabhängige Startups innerhalb den grossen Firmen etablieren (und budgetieren!) – das heisst aber auch genügend Ressourcen für das Daily Business zur Verfügung haben.
- Dem Management die Verantwortung übertragen, ihr Innovationsbudget sinnvoll aufzubrauchen – und Outputs zu messen (z.B. Zeit zur Verfügung stellen um Ideen zu generieren und diese Lean umzusetzen).
- Spezifische, messbare, erreichbare, realistische, terminierte und leane Innovationsziele in den MBO-Zielen bonusrelevant verankern.
- Risikoappetit festlegen und rechtlichen Rahmen abstecken in welchem man sich lean bewegen kann (z.B. Testmarkt definieren, Kriterien festlegen, Policies anpassen).
- Silos aufbrechen und interdisziplinäre Teams bilden (wie wärs mit einem firmenweiten Innovationstag mit Kreativworkshops?).
- Anstatt Bürokratie im Status Quo zu belohnen, innovatives und neuartiges Vorgehen fördern, auf Querdenker hören, Lean-Wettbewerbe veranstalten, Erfolge kommunizieren und feiern, aus Fehlern lernen und die Firmenkultur so prägen, dass sie sich mit dem Lean-Startup Approach vereinbaren lässt.
„If u want to work in Corporate, then u should know how to play Chess.” – Honeya
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Quellen:
HBR Artikel: https://hbr.org/2016/08/the-barriers-big-companies-face-when-they-try-to-act-like-lean-startups
Quote: http://www.quotemaster.org/q3c6323459c763e348a3767bb8243914c